Bei den Festungssoldaten (1943/44)

Regenschauer jagen über das Land. Eiskalter Wind fegt durchs Hochtal. Ein scheussliches Wetter und ausgerechnet heute müssen wir das Werk «Emil II», das für einige Wochen unser «Ferienheim» sein wird, übernehmen. Das Wasser tropft nur so von den Helmen und die Zeltblachen, die jeder Mann umgehängt trägt, sie sind nass und schwer. Ein reissender Bergbach stürzt zu Tal und gespenstig hängen Nebelfetzen in den Schründen.

«Da hinauf müssen wir?» fragt mich ein Kanonier und deutet mit dem Kopf in die tiefhängenden, schwarzen Wolken, die sich wie riesige Ungeheuer die Hänge entlang wälzen. «Ja, da hinauf und wenn’s Katzen hagelt!»

Die Kolonne marschiert – einer hinter dem andern – den steilen Weg hinauf. Hie und da rutscht einer auf einer Wurzel aus und ein kräftiger Soldatenfluch ist die Antwort darauf.

Wir kennen uns alle. Schon viele Diensttage haben wir zusammen verbracht, manchen frohen und auch harten und nicht gemütlichen Tag erlebt. Wir sind gute Kameraden, wir Festungssoldaten. Gerade in dieser Waffengattung ist Kameradschaft ein Wort, das nicht leichtfertig in den Mund genommen, sondern zum Symbol unseres Soldatentums wird. Jeder kann sich auf seinen Nachbarn verlassen, sei es im Frieden oder im Kampf um Leben und Tod.

Der Festungssoldat

Der Fesfungssoldat hat es nicht leicht. Der Dienst stellt an ihn besondere körperliche wie geistige Anforderungen. Er muss sich seelisch wie körperlich auf seine Aufgabe vorbereiten. Seine Marschtüchtigkeit wird bereits nach dem Einrücken erprobt, denn sehr oft liegen die einzelnen Werke weit weg in den Bergen. Die Ausbildung an den verschiedenen Waffen, Instrumenten, Verhalfen im Gelände ist konzentriert und verlangt volle Aufmerksamkeit von ihm. Die heutige Kriegsführung lehrt uns immer mehr, dass der Festungssoldat an möglichst vielen Waffen auszubilden ist. Er muss Kanonier wie Infanterist sein – das Geschütz wie das schwere Maschinengewehr oder die Handgranate genau so gut bedienen und gebrauchen können.

Hart muss er sein im Geben wie im Nehmen. Sei tagelanges Wachtstehen auf verlassenem Posten, wo nur der täglich erscheinende Essenträger etwas Abwechslung bringt, oder dass er als Horch- und Beobachtungsposfen irgendwo in einem Loch oder einer Hütte steckt, immer wird von ihm grösste Konzentration verlangt, immer muss er körperlich und geistig auf der Höhe sein.

Der Festungskampf selber, das Ausharren in nassen Unterständen, vielleicht bei verdorbener Luft – Rauch, Gas –, der Einsatz von überlegener Waffenwirkung des Gegners verlangen äusserst entschlossene und standhafte Soldaten.

Der Festungssoldat muss wissen, dass das Werk gerade so viel wert ist, was er, der es verteidigt, wert ist. Ständig muss er die Bereitschaft seiner Waffen und Munition prüfen, denn sie bildet im Kampfe einen wesentlichen Teil der erfolgreichen Abwehr eines Angriffes.

Dass das Werk nicht zum Verkriechen da ist, weiss er. Er wird so lange als möglich dem Feind vor den betonierten und mit Panzertüren gesicherten Eingängen Widerstand leisten und erst im letzten Moment sich in seinen Maulwurfshaufen zurückziehen, um von dort in sicherer Deckung, gestützt auf die riesigen Reserven an Lebensmitteln und Munition, mit letztem Einsatz weiterzukämpfen, den Gegner zu stören, Ausfälle zu unternehmen, helfen, das Réduit zu halten, bis in den Tod.

Nicht nur sein Werk muss er bis in den kleinsten Winkel kennen. Sein Kampfgebiet reicht weit über das Werk hinaus. An den gegenüberliegenden Felshängen, weit hinten im Tal, auf den Alpweiden und in Wäldern führt er den Kampf.

Erfüllt all diese Voraussetzungen, dann ist ein richtiger Festungssoldat.

 

Das Werk

Endlich haben wir die Höhe erreicht. Hier irgendwo muss sich der Eingang zu «Emil II» befinden. Plötzlich taucht aus dem Nebel ein grüngrau gestrichener Betonklotz auf — das muss der Eingang sein. Der Wachtposten gebietet uns mit scharfer Stimme «Halt» und erst nachdem wir uns gründlichst legitimiert haben, dürfen wir durch die Panzertüre ins Innere der Festung treten.

Ein kalt-feuchter Luftzug empfängt und die Augen müssen sich zuerst an die Dunkelheit gewöhnen. Allmählich erkennen wir einen breiten, hohen Stollen, dessen Lichter sich in der Ferne im Dunst verlieren. Viele kleine Perlen von Kondenswasser zieren die weissgestrichenen Wände. Es tropft. An einer Verladerampe vorbei, die offenbar für die direkt ins Werk fahrenden Lastwagen bestimmt ist, geht es über eine grosse Drehscheibe durch lange Stollen, die hie und da von schweren Türen unterbrochen sind. Sinnvoll ist hier an verschiedenen Stellen für eine ausgezeichnete Abwehrmöglichkeit gegen einen eingedrungenen Feind gesorgt worden. Leitungen – Kabel, Frischluft, Wasser und anderes mehr – ziehen sich den Wänden der Stollen entlang. Irgendwo brummt ein Motor – Lampen blitzen auf.

Endlich, nachdem wir eine Gasschleuse durchschritten haben, stehen wir nach längerer Wanderschaft vor den Kantonnementen. Die Wände sind hier vollkommen trocken und jeder staunt ob solcher Behaglichkeit. Es hat sich keiner träumen lassen, dass es tief im Fels eine so bequeme und angenehme «Wohnung» gibt.

Ein Rundgang macht uns rasch mit den meisten Räumlichkeiten vertraut. Ich sage ausdrücklich «mit den meisten», denn in solchen Werken gibt noch viel mehr als nur Küche, Kantine, Kantonnemente, Krankenzimmer usw. Aber wir dürfen nicht zu viel «aus der Schule plaudern».

Die Kantonnemente der Soldaten sind sauber und bequem eingerichtet, ebenfalls die Zimmer der Offiziere, in denen fliessendes Wasser und Telephon nicht fehlen. Grosse Heizkörper sorgen dafür, dass überall eine angenehme Temperatur herrscht. Die Waschgelegenheiten sind tadellos. Grosse Porzellanschüsseln, fliessendes Wasser, Spiegel und ein besonderes Gestell für das Waschzeug machen Freude, sich gründlichst waschen. Duschräume ermöglichen eine gründliche, persönliche «Retablierung» des Mannes, nach überaus strenger Tagesarbeit. Die Toiletten sind sauber und hygienisch.

Die Küche bildet ein besonders gutgelungenes Stück. Das ist auch sehr wichtig, denn die Leute sind meistens hungrig und jeder Soldat weiss zur Genüge selber am besten, dass ein ausgezeichnet gekochtes Essen viel zur Hebung der Stimmung beiträgt. Mancher Hotelier würde sich beim Anblick dieser «Kochstation» vergnügt die Hände reiben. Grosse, elektrisch geheizte Kessel, nach modernsten Grundsätzen gebaut, gestatten es dem «Küchentiger», ein schmackhaftes Essen zu bereiten. An alles ist hier gedacht.

Anschliessend an die Küche befindet sich der Essraum der Mannschaft, der gross und durch Holzarbeiten und das lustige Deckenmuster heimelig eingerichtet ist. Holzleuchter verbreiten ein angenehmes Licht und man vergisst ganz, dass man in diesem riesigen Haus ohne Fenster tief im Berg sitzt. Die Mannschafts- wie die Unteroffiziers- und Offizierskantine machen einem den Aufenthalt in der freien Zeit angenehm. Natürlich gibt hier Zeitungen, Getränke aller Art, Süssigkeiten, Zigaretten usw.

Wenn wir wieder den Gang betreten, umfängt uns ein angenehmer Geruch nach frischem Brot. Die Bäckerei ist bereits in vollem Betrieb und ein schneller Blick in diesen grossen Raum bestätigt uns, dass auch hier mit allerneuesten Maschinen gearbeitet wird.

Dass es auch noch mehr als blosse Kantonnemente, Essräume, Kantinen, Bäckerei usw. gibt, vermittelt ein Besuch der Krankenabteilung. Da kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Instrumente aller Art blitzen in den grossen Glaskasten, Quarzlampen, Operationstische und vieles mehr ermöglichen dem Krankenpersonal, jede Operation  schnellstens durchzuführen. Es ist hier für alles gesorgt.

Ein Lift bringt uns in ein Stockwerk, wo sich die einzelnen Büros, Magazine aller Art und andere Räumlichkeiten befinden. «Maschinenraum. Zutritt verboten!» lese ich einer Türe, oder «Lebensmittelmagazin», «Entgiftungsraum», «O-Geräte». Ein verstohlener Blick in die umfangreiche Telephonzentrale, die wiederum nach modernsten Grundsätzen gebaut ist, zeigt uns Telephonisten an der Arbeit.

Anderswo führen Treppen zu den einzelnen Kampfständen. Sie sind die Augen dieses Baues. Noch sind die Scharten geschlossen. Öffnen sie sich, dann starren dunkle Rohre in das Land, bereit, Stahl und Eisen zu speien. Alles strahlt vor Sauberkeit. Waffen, Instrumente, Munitionsbehälter — alles ist blank und blitzt ölig. Entlüftungsanlagen tragen dazu bei, Rauch, Gas, verdorbene Luft abzuziehen und durch frische Luft zu ersetzen.

Der Ausbildungsdienst

Wie an anderer Stelle schon gesagt, ist die Ausbildung an den einzelnen Waffen konzentriert und erfordert vom Manne wie vom Instruierenden die volle Aufmerksamkeit. Es ist klar, dass bei der grossen Zahl der zu erlernenden Waffen, bei ihrer Verschiedenartigkeit, die Mehrzahl der Arbeitsstunden eines Diensttages für den Fachdienst verwendet wird. Nach der Tagwache, die ziemlich früh angesetzt ist, wird zuerst einmal tüchtig geturnt, der Körper gestählt, um ihn für die verschiedenen körperlichen Anstrengungen zu trainieren. Nach einem längeren Geländelauf werden Freiübungen gemacht, wobei das Armeeturnprogramm die Grundlage bildet. Stafetten, Spiele – Platz vorhanden – sollen dem Soldaten vor Augen führen, dass einer allein nichts bedeutet, sondern nur das Ganze, die Mannschaft, den Sieg erringen kann.

Hat man sich gründlichst gewaschen, gibt es Frühstück. Nach einer kurzen Pause, die dazu verwendet wird, die Zimmer in Ordnung zu bringen, macht der Feldweibel Appell – die Tagesarbeit beginnt. Gruppenweise wird entweder am Geschütz, an den Infanteriewaffen, an Handgranaten ausgebildet. Zwischendurch gibt es kurze Pausen, wobei ein fröhliches Lied erschallt.

Vor dem Mittagessen hat man wiederum Gelegenheit, sich zu waschen – Reinlichkeit ist bei einer Werkbesatzung sehr wichtig. Das Essen ist richtige Soldatenkost. Es gibt genug und allen schmeckt es ausgezeichnet. Dann ist Ruhe auf den Zimmern, bis der Feldweibel die Kompagnie wiederum auf dem Appellplatz dem Kommandanten zur Arbeit meldet.

Fachdienst, Einsatz im Gelände, Theorie, Exerzieren, sorgen dafür, dass auch am Nachmittag tüchtig gearbeitet wird. Während des Inneren Dienstes retabliert sich der Mann, wechselt die Kleider, reinigt die Schuhe und sauber erscheint er dann zum Hauptverlesen. Die Kompagnie wird dem Kommandanten «marschbereit» gemeldet. Er inspiziert kurz die Leute und bald sehen wir die Mannschaft über den vollen Tellern sitzen. Nach dem Nachtessen Ausgang – Zimmerverlesen – Lichterlöschen.

Der Kampf

Eben hat die Zentrale den Kompagnie-Kommandanten mit der Kommandostelle X verbunden. Befehl: «Alarm! Sie besetzen sofort alle Kampfstände und Aussenposten. Feindlicher Angriff aus Sektor 10 erwarten!»

Der Kommandant hebt den Hörer seines Tischtelephons ab: «Alle Offiziere auf Büro 32!» Schnellstens verbreiten sich die einzelnen Meldungen. Es wird lebendig in diesem Maulwurfshaufen. Leute springen in die Kantonnemente – greifen zu den Waffen, zum Helm, zur Vollpackung, wenn sie auf Aussenposten befohlen sind. Kurze, soldatische Kommandos der Unteroffiziere ordnen die Mannschaft. Jeder kennt seinen Platz. Tagelang hat er das geübt – die Alarmorganisation sitzt. «Kanonier Meier im Urlaub» meldet ein Soldat dem Feldweibel. Für den fehlenden Kameraden springt sofort ein anderer ein.

 

Eine halbe Stunde später stehe ich mit Tasche und Rucksack auf dem schmalen Strässchen vor dem Werk. Es ist völlig dunkel und eisiger Regen peitscht mir ins Gesicht. Das kann nett werden, denke ich, wenn der Alarm lange dauert. In meiner Begleitung befinden sich noch Telephonisten, die mit mir auf den vom Kommandanten bezeichneten Posten mitkommen sollen.

Wir marschieren – marschieren. Es darf kein Licht gebraucht werden, denn der Feind hat Patrouillen in unseren Raum vorgestossen. Ich schaue auf die Uhr. «Vorwärts, noch eine Viertelstunde und wir sind oben!»

Auf dem Posten angelangt, wird zuerst Verbindung mit dem Kommandanten hergestellt. «Hier Fritz — Linienkontrolle» höre ich den Telephonsoldaten sprechen. Keine Antwort! Fieberhaft wird der Anschluss kontrolliert — alles in Ordnung. Haben die feindlichen Patrouillen vielleicht die Linie unterbrochen? – Endlich bekommen wir Verbindung. – Gott sei Dank.

«Hier Fritz – Linienkontrolle. Linie – fertig!» klingt wie eine Erlösung. Also, das klappt. Inzwischen habe ich auf dem roh gezimmerten Tisch meine Karte ausgelegt. Alles notwendige Material liegt bereit und ich denke: «So, jetzt kann’s losgehen!»

Im Werk sind die Geschützbedienungen schnell in den einzelnen Kampfständen und innert kürzester Zeit sind die Rohre schussbereit. «Meldung an Schiessoffizier – Batterie I schussbereit!» So folgt Bereitmeldung auf Bereitmeldung.

Weit vor dem Werk, zwischen Felsen und Tannen, liegen die Horch- und Beobachtungsposten. Lautlose Stille herrscht. Geräuschlos wird die Tanksperre eingesetzt, werden Minenkammern bereitgemacht. Jeder Griff, jedes Kommando ist so und so viele Male geprüft worden, es klappt ausgezeichnet.

Die Aussenverteidigung hat ihre wohlvorbereiteten Stellungen bezogen. Gespannt, den Blick in die beinahe undurchdringliche Dunkelheit bohrend, den Körper hart Boden – warten die Männer auf das Kommende. Geräuschlos werden die Infanteriewaffen geladen – entsichert! All das, was sie in tagelanger Arbeit geübt haben, soll jetzt geprobt werden, soll jetzt seine Feuertaufe bestehen.

Nichts regt sich – unheimliche Stille. Da – ein dünner Feuerstrahl zischt über die Tannenwipfel in den Himmel. Eine weissglühende Kugel schwebt – für kurze Augenblicke blendendes Licht verbreitend – herab. Man sieht auf einmal deutlich die wohlbekannten Felsen, die Drahthindernisse und Barrikaden.

Da – eine zweite Rakete. Der Feind, der sich offenbar an das Drahthindernis in Sektor 4 heranschleicht, ist von Vorposten erkannt worden. Ein leichtes Maschinengewehr rattert los – ein, zwo kurze Feuerschläge. Einzelne Schüsse fallen – dann ist es wiederum still. Vom Feind ist im Moment nichts sehen.

Ist er zurückgegangen und versucht er sich anderer Stelle? Ein Blitz, ein ungeheurer Knall – dem Feind ist es gelungen, an einer Stelle das Drahthindernis zu sprengen. Die Festungssoldaten wissen, was das bedeutet und plötzlich, wie auf einen Schlag, bricht es aus dem Innern des Berges los. Gelbrote Flämmchen zucken auf – die schweren Maschinengewehre sind in Aktion getreten und ihre Leuchtspurgarbe liegt in der klaffenden Lücke im Hindernis. Es gilt, unter allen Umständen den Feind am Durchstossen des Hindernisses zu hindern. Der Berg ist förmlich erwacht und von allen Seiten, wo der Feind kein Feuer erwartet hat, sendet jener Tod und Verderben in den gefährdeten Raum. Irgendwo konnte eine Gruppe durchstossen. In rücksichtslosem Einsatz – im Kampfe Mann gegen Mann – werden sie von unseren Soldaten vernichtet.

Ein Feuerschein blitzt auf, dumpfes Rollen – Geschütz I hat gefeuert. Schuss auf Schuss folgt – die Hölle ist los. Donnerschläge brüllen die steilen Felswände hinauf, überschlagen sich den Felsen und wälzen sich vielfältig weiter. Ein Scheinwerfer blitzt auf – ein Signal ertönt – der Angriff ist abgeschlagen. Werk «Emil II» hat seine Feuerprobe bestanden.

Das ist kurz die Geschichte des Festungssoldaten. Das Wissen um eine Sache, seine Sache, macht den Soldaten zum wahren Kämpfer seines Werkes.

Soldatischer Wille Kampfe, Mut, Treue und Entschlossenheit der Besatzung wie des Kommandanten sind ausschlaggebend für die Stärke eines Werkes. Sind sie vorhanden, kämpft das Werk eingedenk der Worte: «Der Feind wird niemals siegen, wenn wir nicht unterliegen.»

Von Lt. E. Weisskopf – Schweizer Soldat, Heft 4/Band 19 1943-44